Eines Tages hielt der heilige Johannes Bosco in einem Seminar die heiligen Exerzitien. Als er die Predigt über die Sünde beginnen wollte, konnte er nur die Worte hervorbringen. "Was ist die Sünde?" Dann brach er in lautes Schluchzen aus. "Noch nie", so erzählte später einer der Anwesenden, "hat eine Predigt einen solchen Eindruck auf mich gemacht, als diese vier Worte." Der gute Vater hatte eben schon zu tief hineingeschaut in das furchtbare Elend, das die Sünde in den Seelen der Menschen hervorbringt.
Was ist nun die Sünde? Die Sünde ist die freiwillig gewollte Übertretung des göttlichen Gesetzes, die freiwillige Entfernung vom Ziel, das Gott den Menschen gesetzt hat. Am besten versteht man die Verwerflichkeit der Sünde, wenn man die Folgen betrachtet, die die Sünde nach sich zieht, sowohl vom natürlichen als auch vom übernatürlichen Standpunkt aus.
Vom natürlichen Standpunkt aus verzichtet der Mensch, der sündigt, auf den Gebrauch seiner Vernunft, denn er folgt seiner Leidenschaft, er verzichtet auf seine Freiheit, denn er wird ein Sklave der Sünde, wie schon die Heilige Schrift sagt: "Jeder, der Sünde tut, ist ein Knecht der Sünde" (Joh. 8, 34). Und dieselbe Heilige Schrift vergleicht die sündhaften Menschen mit den unvernünftigen Tieren. Außerdem erniedrigt sie den Menschen, indem sie ihn zum Heuchler stempelt. Welch größere Beleidigung kann man uns antun, als wenn man uns vorwirft, daß wir Heuchler sind. Und doch will der Mensch, der sündigt, in den meisten Fällen vor der Welt als gerecht gelten, er heuchelt.
Viel schwerwiegender aber sind die Folgen der Sünde vom übernatürlichen Standpunkt aus. Wir haben gehört, daß wir durch die heiligmachende Gnade Kinder Gottes, Erben des Himmels, Miterben Jesu Christi werden, daß wir Tempel des Heiligen Geistes, ja in gewissem Sinne in die Lebensgemeinschaft Gottes aufgenommen werden. Durch die heiligmachende Gnade sind wir fruchtbringend für die Ewigkeit, jede unserer Handlungen ist verdienstvoll für den Himmel. - Durch die Sünde geht dies alles verloren. Selbst die Verdienste der guten Werke, die wir uns erworben haben, sind verloren. Es ist furchtbar, was für schreckliche Folgen die Sünde nach sich zieht. Und was soll ich sagen von den Folgen der Sünde in der menschlichen Gesellschaft? Wie viele bittere Tränen werden vergossen, wie viel Schmerz, wie viel Elend verursacht. Der heilige Johannes Bosco besuchte als junger Priester die Gefängnisse und Krankenhäuser, und zwar besonders jene Abteilungen, wo Jugendliche untergebracht waren. Da sah er die jugendlichen Gefangenen in dumpfer Verzweilung in engen Zellen eingeschlossen und auf der Stirne dieser Unglücklichen las er in flammenden Buchstaben das Wort "Sünde". Und wenn er in den Jugendabteilungen der Spitäler von Bett zu Bett ging, die fahlen, eingesunkenen Gesichter betrachtete, den hartnäckigen Husten hörte, so flammte wieder vor seinem Geiste das tieftraurige Wort auf: "Sünde". Die meisten dieser dem Tode geweihten Jugendlichen waren Opfer der Sünde.
Was Wunder also, wenn das Herz des jungen Priesters, das glühte in Liebe zu dieser Jugend, aufflammte und Mittel und Wege suchte, um die so heißgeliebte Jugend vor solch namenlosem Unglück zu bewahren, oder, wenn sie sich bereits in dasselbe gestürzt hatte, sie davon wieder zu befreien. Und die liebe Gottesmutter steigerte noch diesen seinen Rettungswillen, indem sie ihm in Visionen die schrecklichen Verunstaltungen zeigte, welche die Sünde in den Seelen hervorbringt. Wie wir aus den folgenden Darstellungen ersehen werden, sah der heilige Don Bosco gar oft, in welchem Seelenzustand sich seine Zöglinge befanden - und gar manche sah er bedeckt mit dem Aussatze der Sünde.
Beispiel:
Ein Traum über den Gewissenszustand der Zöglinge
In den drei Nächten vor Abschluß des Jahres 1860 hatte Don Bosco fortgesetzt Träume. Der Traum der dritten Nacht bezog sich auf die Zöglingen, und diesen erzählte er ihnen auch. "Es schien mir", sagte er, "ich befände mich mit Don Cafasso, mit Silvio Pellico und dem Grafen Cays in einem herrlichen Palaste mit schönen, anliegenden Spielplätzen. Auf den Spielplätzen waret ihr, laufend und springend, lustig und fröhlich, wie ihr es hier seid. Da fiel mir ein, daß dies der letzte Tag des Jahres sei, und ich bat Don Cafasso, er möchte mir für meine Knaben einen Leitgedanken angeben. "Nur langsam", erwiederte er mir, "sage zuerst deinen Knaben, daß sie ihre Rechnungen in Ordnung bringen und mir vorzeigen." Darauf gingen diese Männer in einen prunkvollen Saal dieses Palastes und setzten sich an einen Tisch. Ich ging in den Hof und rief die Knaben zusammen und sagte ihnen, sie sollten ihre Rechnungen bereit halten, weil Don Cafasso sie überprüfen wolle. Die Knaben kamen gleich herbei, stellten sich auf mein Geheiß in Reih und Glied, zogen Rechentabellen aus der Tasche und fingen an zu rechnen. Darauf ging einer nach dem anderen in den Saal, stellte sich der Prüfungskommission vor und wartete, bis er wieder in den Hof gehen durfte. Von den drei Herren nahm zuerst Don Cafasso die Tabelle und prüfte das, was religiösen Geist und sittliches Betragen anbelangte; dann gab er die Tabelle an Silvio Pellico weiter, der den Fleiß und Arbeitseifer überprüfte, und Don Cays sah nach, ob hinsichtlich der Disziplin alles stimmte. Bei vielen war alles in Ordnung, und diese bekamen ihre Tabellen mit einem wohlwollenden Blick der drei Herren wieder zurück; bei mancher aber stimmte es nicht, und ihnen wurde die Tabelle mit scharfem Tadel zurückgegeben. Nicht wenige blieben im Hofe, traurig und niedergeschlagen, denn sie hatten gar nichts auf ihre Tabellen geschrieben. Ich fragte Don Cafasso, was es mit diesen sei. Er antwortete mir: "Diese haben gar keine guten Werke verrichtet, sie befinden sich im Zustand der schweren Sünde." Als ich näher zu ihnen hinzutrat, sah ich, daß sie ganz schauderhaft zugerichtet waren. Die Zunge, die Augen, die Ohren waren von Würmern zerfressen, aus ihrem Munde kam ein so übler Geruch, daß man es in ihrer Nähe kaum aushalten konnte. Ich erkannte sie alle und ich fragte einzelne, bist du wirklich der und der? "Ja", antwortete der Gefragte, "ich bin es". "Wie bist denn du in einen solchen Zustand geraten?" "Leider, aber es ist meine Schuld, es ist die Strafe für meine Sünden". Dieser Anblick durchbohrte wie ein Schwert meine Seele; ich sah so manchen unter diesen Unglücklichen, den ich für brav und tugendhaft gehalten hatte, und ich mußte nun sehen, daß er vom Aussatze der Sünde grauenhaft zugerichtet war.
Indessen waren die anderen, deren Tabellen schön in Ordnung waren, im Hofe, spielten lustig und fröhlich und waren guter Dinge. Da trat Don Cafasso aus dem herrlichen Palaste und rief sie zu sich. Ich ging auch wieder hin und sah, wie er sie in einen großen, geräumigen, herrlich gezierten Saal führte. Dort waren auf Tischen die feinsten Backwerke, die ausgesuchtesten Speisen und schöne, saftige Trauben aufgestellt. Don Cafasso gestattete den Knaben, daß sie sich an die Tische setzten und nach Belieben sich dieser Gottesgaben bedienten. Die Knaben ließen es sich nicht zweimal sagen und aßen nach Herzenslust von den guten Sachen. Obwohl ich mich mit diesen Glücklichen freute, so konnte ich doch die anderen, die so bedauernswert zugerichtet draußen im Hofe teilweise auf dem Boden, teilweise auf schmutzigen Bänken lagen, nicht vergessen, denn auch sie liebte ich mit der ganzen Inbrunst meines Vaterherzens. Und ich bat Don Cafasso, ob ich nicht von den vielen Sachen, die im Überfluß dastanden, etwas auch den armen Unglücklichen bringen dürfte. Doch er gab mir ein entschiedenes Nein. "Diese müssen erst geheilt werden, nur dann dürfen sie etwas von diesen Sachen genießen."
Ich bat abermals Don Cafasso, er möchte mir das Mittel nennen, das ich anwenden soll, um sie zu heilen, und er sprach zu mir: "Denke darüber nach, und du wirst es finden."
Dann wandte er sich an mich und an die Knaben, die am Tische saßen, und sagte mit feierlicher Stimme dreimal hintereinander:
"Attendite vobis! Attendite vobis! Attendite vobis!
"Gebet acht auf euch! Gebet acht auf euch! Gebet acht auf euch!"
Darauf war alles verschwunden und ich wurde wach, wie ich jetzt bin. Das habe ich geträumt; ein jeder möge den Traum auslegen,wie es ihm gut dünkt; keiner aber soll ihn draußen erzählen.
Die Wirkungen solcher Träume hinsichtlich der sittlichen Führung der Knaben waren außerordentlich groß. Am anderen Tag war der Zudrang der Knaben zu Don Bosco außerordentlich; ein jeder wollte wissen, ob er bei denen war, deren Rechnungen stimmten, oder bei denen, die so schrecklich zugerichtet waren. Der gute Vater war bereit, einem jeden zu sagen, wie es mit seiner Seele stand. Selbst die Hartnäckigsten waren erschüttert, gingen zu Don Bosco, legten eine Generalbeichte bei ihm ab und führten von da an ein geordnetes Leben.
Noch ein Beispiel soll zeigen, wie der liebe Gott wirklich durch diesen Traum Don Bosco die Gewissen seiner Knaben offenbarte.
Ein Knabe hatte schon seit längerer Zeit eine Sünde in der heiligen Beichte verschwiegen. Die Erzählung dieses Traumes machte auf ihn einen gewaltigen Eindruck. Er raffte sich auf und entschloß sich, eine Generalbeichte abzulegen. Um diese Zeit kam öfters ein Priester namens Don Picco ins Oratorium, um Don Bosco beim Beichthören zu helfen. Bie diesem legte er eine Generalbeichte ab. Als er aber zu dieser Sünde kam, brachte er wieder den Mut nicht auf und verschwieg sie wieder. Nach zwei Tagen begegnete ihm Don Bosco. Er fragte ihn: "Wann wirst du eine Generalbeichte ablegen?"
"Ich habe sie schon abgelegt", antwortete er.
"Sei ein bißchen still! Du hast keine Generalbeichte abgelegt. Sage mir, warum hast du diese Sünde verschwiegen?" (Und er nannte ihm die Sünde.) Auf diese Worte hin senkte der Knabe den Kopf und fing an zu weinen, er ging in die Sakristei und legte eine gute, reuevolle Beichte ab. Dieses haben wir vom seligen Kardinal Cagliero erfahren, der damals Assistent war und dem der Knabe es erzählt hatte.
Tugendübung: Fassen auch wir als Lebensgrundsatz den Vorsatz eines Dominikus Savio und eines Leo Burger: "Lieber sterben als sündigen."
Stoßgebet: Heiliger Schutzengel mein, laß mich dir empfohlen sein, daß mein Herz von Sünden frei, allzeit Gott gefällig sei.
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