Samstag, Juni 24, 2006

Das Januarius-Blutwunder in Neapel

Schon war in Rom die Reisegesellschaft nach Neapel gefunden, der Vertrag mit dem Vetturin bereits geschlossen, der Tag der Abfahrt festgesetzt, als die Fürstin Wolkonski mir bemerkte: "Sie kommen zur günstigen Stunde nach Neapel, Sie werden das Blut des heiligen Januarius sehen, versäumen Sie doch nicht dieses Wunder." - Nun von dem Blut des hl. Januarius hatte ich schon viel gelesen und ebensoviel von allen den Manipulationen, welche angewendet würden, um es zum Fließen zu bringen. Daß es noch zu anderer Zeit gezeigt werde, als während der Oktav seines Festes, im September, das wußte ich nicht. Die Nachricht der Fürstin war mir daher sehr erwünscht. Ich ging somit, wie ich es nachher jedermann erklärt hatte, nach Neapel, in Bezug auf diese Sache ohne Glauben und ohne Unglauben, aber doch in der Erwartung, irgend einer versteckten Vorkehrung zu begegnen, welche auch der genauesten Beobachtung sich zu entziehen wisse. Vorherrschend war allerdings der Wille zu sehen, zu beobachten, und zwar, so es immer möglich wäre, genau zu sehen, dabei vorgefaßte Meinung möglichst ferne zu halten. Stand hier die lange Erfahrung, so stand dort das Zeugnis so mancher Reisebeschreiber, beide gegenseitig sich aufwägend. Jedenfalls konnte ich mich am wenigsten von der Vermutung losmachen, die Sache in ein solches Helldunkel gehüllt zu finden, unter welchem dieselbe, bei allen zufällig darüber ziehenden Streiflichtern, immer noch in hergebrachtem Ansehen erhalten, demnach in vollkommen gleicher Berechtigung mit dem Glauben auch der Zweifel könnte geltend gemacht werden.
Es war Samstag nachmittas, den 4. Mai, als das Blut des hl. Januarius in großer Prozession aus der Domkirche nach der Kirche von St. Clara beleitet wurde, wohin schon am Vormittag das Haupt des Heiligen gebracht worden war. Bei den Empfehlungen, womit ich versehen war, und den Verwendungen meines Freundes und Landsmannes, des Herrn Abbé Eichholzer, fiel es nicht schwer, innerhalb der Schranken um den Hochaltar meinen Platz zu finden. Zunächst, aber außerhalb derselben, fanden sich zwei Bänke, mit Frauen aus der untern Volksklasse angefüllt, welche in gellendem Ton aus voller Kehle unablässig schrien. Wie widerwärtig anfangs die Sache mir schien, so überzeugte ich mich doch bald, daß sie mit dem Ave Maria, mit dem Vaterunser, der Lauretanischen Litanei und ähnlichen Gebeten wechselten. Es waren diejenigen, welche, als Abstämmlinge von der Amme des heiligen Januarius, oder, wie andere sagen, aus seinem Geschlecht, seit urdenklichen Zeiten diesen Ehrenplatz und das Ehrenrecht des schreienden Gebets innehaben, und hierauf ebenso stolz sind, als ein Adeliger auf seine Ahnen, Titel und Befugnisse; daher sind sie auch beflissen, jenes Recht mit gleicher Sorgfalt auf ihre Nachkommen zu verpflanzen.
Es mag draußen Dämmerung gewesen sein, als das Glockengeläute das Herannahen der Prozession in die lichtstrahlende, menschenvolle Kirche ankündigte. Die lebensgroßen silbernen oder reichvergoldeten, auch wohl mit Edelgesteinen besetzten Brustbilder von sechsundvierzig Heiligen zogen voran, am Hochaltar vorüber, auf welchem die Überreste des Blutzeugen und Landesvertreters in ein von Diamanten, Smaragden und ähnlichen Edelsteinen funkelndes Brustbild eingeschlossen standen. Jeder der sich nahenden Heiligen wurde von den Frauen mit einem Gebet begrüßt und, je nachdem derselbe ihrem Herzen näher stand, ward das Schreien lauter und gellender, hatte es förmlich den Ausdruck, als wollten sie das Himmelreich mit Gewalt und Ungetüm an sich reißen. Aber auch hier bot sich mir alsbald der Beweis wieder dar, wie grundlos die Anschuldigung sei, als würde über den Geschöpfen der Schöpfer, über den Erlösten der Erlöser, über den Heiligen der Quell der Heiligkeit vergessen; denn jedem den Heiligen gebrachten Hochruf (als solches klang die Begüßung) und dem Ora pro nobis folgte immer das Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto. Also auch hier dem Heiligen die Anerkennung, dem Dreimaleinen allein die Ehre!
Endlich kam, in eine Art Monstranz eingefügt, das Fläschchen mit dem Blut und wurde auf die Epistelseite des Altares gestellt. Ich drängte mich diesem so nahe als möglich, und fand zwischen schaulustigen Gesichtern und foppenden Bocksbärten noch Raums genug, um den ganzen Hergang mit der genauesten Aufmerksamkeit zu beobachten. Anfangs wollte es mir als Nichtachtung des Schicklichkeitsgefühls vorkommen, daß eine Handlung, die eine eminent religiöse sein sollte, unter einem solchen bis zu den obersten Stufen des Altars und dicht an die Seite des Priesters sich vordrängenden Gehäufe von Neugierigen und gewiß auch Frivolen sollte vorgenommen werden. Nachher aber ward es mir klar, daß die Möglichkeit, den Vorgang mit der größten Genauigkeit, ohne alle Rücksicht auf Gesinnung und Zweck, beobachten zu können, nicht nur nicht sollte beschränkt, sondern in dem größten Umfang eingeräumt werden. Sind es doch immer Fremde, die am ersten Tage der Ausstellung des Blutes innerhalb der Schranken des Altares ihre Stelle suchen. Welches deren Absicht auch sei, die so nahestehende Anschuldigung: es sei nicht von dem Flüssigwerden des Blutes zu reden, niemand könne sich nahen, Täuschung des Fernestehenden sei leicht möglich, sollte beseitigt werden. Und in der Tat, gegen vierzig Personen standen dicht um den Gegenstand, daß es für diese alle keines scharfen Auges bedurfte, um den Hergang mit der möglichsten Aufmerksamkeit zu beobachten.
Ein Priester hob nun das Gefäß, worin die Fläschchen enthalten sind, aus der Monstranz, ein anderer stand neben ihm mit einer brennenden Wachskerze, von nicht größerem Durchschnitt, als der dritte Teil eines Zolles, gerade hinreichend, um über die gläserne Einfassung des Fläschchens genugsames Licht zu verbreiten; zudem ward die Kerze so gehalten, daß zwischen ihr und dem Gefäß noch immer Zwischenraum genug blieb, um den Verdacht von einwirkender Wärmeausstrahlung aus der schwachen Flamme von vornherein zurückzuweisen. Dem gegenüber ist dann viel gesprochen und bereitwillig geglaubt worden von der Manipulation des Priesters, durch dessen warme Hände, in Verbindung mit der Temperatur der Kirche, der in dem Fläschchen enthaltene Stoff endlich flüssig werden müsse. Alle, die solches behaupten, haben entweder dieses Flüssigwerden nicht gesehen, oder, wenn sie es gesehen haben, und dennoch von einer solchen Manipulation sprechen, sind sie die schändlichsten Lügner, welche wissentlich etwas vorgeben, was sich durchaus anders verhält, wovon nicht einmal eine Spur vorhanden ist.
Dasjenige Fläschchen, in welchem der Stoff, welcher flüssig werden soll, sich befindet, ist versiegelt, und niemand, der das Siegel betrachtet, wird behaupten, es sei neueren Ursprungs. Die Fläschchen selbst stehen in einem Gefäß - in Gestalt eines kleinen Handlaternchens - auf der Vorder- und Rückseite mit einem Glas versehen; zwischen ihnen und den beiden Gläsern ist aber ein leerer Raum, im Durchmesser eines Fingers. Unter diesem einschließenden Gefäß ist ein metallener Stil, etwa 13 cm lang, zur Handhabe dienend, und über demselben ein metallenes Krönchen, oben mit einem Kreuz versehen. Mittelst des erstern wird es in die Monstranz eingeschraubt. Der dichte Stoff, von bräunlicher Farbe, füllt das Hauptfläschchen nicht ganz, sondern es bleibt von demselben bis zur Mündung ein leerer Raum, etwa 1/3 des Fläschchens ausmachend. Der Priester faßt nun mit der einen Hand den Stil, mit den Fingerspitzen der andern den obersten Teil des Kreuzchens und geht damit an dem Altar hin und her, um es den Anwesenden zu zeigen, wobei er, nicht das Fläschchen, sondern das ganze Gefäß wiederholt umkehrt, der andere aber mit dem kleinen Licht leuchet, um jeden zu überzeugen, daß der Stoff sich in festem Zustand befindet. Eine andere Bewegung habe ich den Priester nie machen gesehen; selbst von der leisesten Berührung des Glases, hinter welchem immer noch frei und in leerem Raum das Fläschchen stünde, geschweige denn von einer Manipulation, kann gar nicht die Rede sein. Eine Berührung des Fläschchens aber wäre physisch unmöglich.
Während das Gefäß öfters gewendet wurde und der darin enthaltene Stoff fest blieb, sang der Chor das MISERERE und das Athanasianische Glaubensbekenntnis. Lauter und inbrünstiger beteten die Frauen die Lauretanische Litanei, die Versammlung schloß sich an die Gebete an. Zwischenhinein erhoben jene mit dem Ausdruck des heißen Verlangens, ja des Ungestüms, ihre Stimmen sonst noch. Ich konnte aber nichts verstehen, weil sie in neapolitanischem Dialekt ihrem Herzen Luft machten. Eine etwelche Bewegung der Ungeduld zeigte sich dennoch durch die Versammelten; denn bald eine Viertelstunde lang hatte der Priester das Gefäß gewendet, und immer noch zeigte sich der Stoff in seinem festen Zustande. Endlich warf er einige leichte Bläschen, und plötzlich war er zerronnen, die Flüssigkeit füllte das Fläschchen, welches zuvor den oben bemerkten leeren Raum gezeigt hatte. Sobald der Prieser das erfolgte Wunder ankündigte, schallte, von der Menge angestimmt, das Te Deum durch die Hallen der Kirche; der Priester aber fuhr fort, das Fläschchen mit der flüssiggewordenen Materie zu zeigen, drückte es jedem auf Stirne und Brust und reichte es zum Küssen dar.

Das ist der getreue Bericht meiner Beobachtungen an jenem Samstagabend. Ich könnte auf alles, was ich hier mitteile, jeden Augenblick den Eid ablegen: daß ich anderes, als was ich mit meinen Augen gesehen habe, nicht berichte, das was ich aber gesehen, so beschreibe, wie ich es gesehen habe.

Am folgenden Vormittag fand ich mich frühzeitig genug in der Kapelle des heiligen Januarius ein, wo das Flüssigwerden wieder vor sich gehen sollte. Diesmal konnte ich noch näher, noch genauer beobachten. Wieder wurde das Miserere angestimmt, und die auf den Knieen liegende Menge harrte mit Ehrerbietung und freudigem Erwarten, die Augen nach dem Altar gewendet. Mit dem Bischof von Lancaster und einem General-Vikar aus Kanada stand ich auf dessen oberster Stufe, unmittelbar neben dem Priester, welcher das Gefäß in den Händen hielt. Er behandelte es auf vollkommen gleiche Weise, wie der andere Priester am Abend vorher. Mehr als einmal hielt er mir dasselbe unter die Augen, und ich überzeugte mich von der vollkommenen Dichtigkeit und Festigkeit des Stoffes, so wie man bei gesunden Augen und klarem Bewußtsein von irgend einer Sache nur immer sich überzeugen kann. Jetzt so wenig, als am Abend vorher, fand auch nur von Ferne eine andere Berührung des Gefäßes statt, als in der oben beschriebenen Weise. Diesmal jedoch dauerte es nicht so lange, bis der Stoff flüssig wurde. Es mochten kaum fünf Minuten vergangen sein, als die Bläschen zum Vorschein kamen, die Masse vollkommen zerrann, das Fläschchen sich wieder gefüllt hatte, da zuvor ein ähnlicher leerer Raum zu sehen gewesen. Wieder ergoß sich die dichte Menge, welche die Januariuskapelle und außer derselben einen Teil der Domkirche gefüllt hatte, in das Te Deum.
Nachdem ich dann am folgenden Tage bei hellem Sonnenlicht, auf den Stufen des Altares, dicht an der Seite des Priester, den ganzen Hergang nochmals von Anfang bis zu Ende und mit gleichem Vorsatz bloß prüfen zu wollen, beobachtet hatte, da sah ich keinen zureichenden Grund mehr, mit meinem Urteil zurückzuhalten, oder durch hervorgesuchte Wenn und Aber dasselbe zu verklausulieren, oder es in die Schwebe zu stellen, oder an der richtigen Wahrnehmungsfähigkeit meiner Sinne zu zweifeln; sondern, wo ich befragt wurde, oder wo das Gespräch auf diese Sache sich lenkte - was zu Neapel in den der Ehre des Heiligen gewidmeten Tagen so selten nicht ist - äußerte ich mich: etwas Wunderbares, wenigstens Unerklärliches, könne hier selbst vom Ungläubigsten, so er nur redlich und aufrichtig sein wolle, nicht geleugnet werden.

Die Bollandisten haben bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts mit der genauesten Skrupulosität sich bemüht, nicht nur die schriftlichen Zeugnisse und Berichte über diesen Vorgang aus allen Zeiten zu sammeln, sondern wiederholt an Ort und Stelle alles zu erforschen und zu beobachten. Schon im Jahre 1661 reisten Henschen und Papebroch deswegen nach Neapel, und waren am 10. März in Gegenwart mehrerer Personen Zeugen der Sache. Beinahe 100 Jahre später kam der Bearbeiter der Akten über den hl. Januarius in gleicher Absicht dahin, und am 21. August 1754 wurde in Gegenwart der zum Schatz Verordneten (mehrerer Herren vom höchsten Adel) vieler Geistlicher und anderer angesehener Männer durch den Erzbischof das Blut aus der Nische genommen und eine Akte über dessen Verwahrung und Hervornahme aufgesetzt und unterzeichnet. In dieser heißt es: "Die ehrwürdigen Überbleibsel werden mit der größten Vorsicht (summa cautela) verwahrt; die Schreine sind aus Werkstücken von Marmor in die Mauer gebaut, durch zwei Türen, jede in- und auswendig mit Silberblech beschlagen, verschlossen. Jede Türe hat zwei Schlösser und zwei verschiedene Schlüssel; zwei derselben verwahrt der Erzbischof, zwei ein zu der Deputation Verordneter (aber mit öfterem Wechsel der Person durch das Jahr). Blut und Haupt zugleich werden des Jahres nur dreimal, das letztere allein wird an mehreren hohen Festen hervorgenommen. Der Erzbischof sendet alsdann einen Delegierten, der Verordnete findet sich in Person ein, und Zeugen geistlichen und weltlichen Standes sind immer viele anwesend. Würden aber die Verordneten nicht zur bestimmten Stunde sich einfinden, so wäre es unmöglich, die Überbleibsel hervozunehmen."

Man kennt die Sorgfalt, womit die Christen das Blut der Märtyrer unter allem Toben der Heiden und selbst unter dem Henkersschwert, und wären es auch nur Tropfen desselben gewesen, oder hätten sie nur Tücher in dasselbe tauchen können, auffaßten, selbst mit Erde von der Richtstätte vermischt, es zusammenrafften.
Der heilige Januarius nun war Bischof von Benevent, und wurde in der Christenverfolgung unter Diokletian im fünften Jahre des 4. Jahrhunderts mit einigen Gefährten nach Pozzuoli geschickt, um im dortigen Amphitheater den wilden Tieren vorgeworfen zu werden. Seine Leidensgeschichte erzählt uns, daß diese besänftigt zu seinen Füßen sich gelegt hätten, worauf der Richter, hierob noch wütender geworden, Befehl zu seiner Enthauptung gegeben habe. Bei dieser faßte eine gottesfürchtige Frau sein Blut in zwei Fläschchen auf, in das eine das reine und unvermischte, in das andere mit Erde vermengt. Unter Kaiser Konstantin dann wurden die Gebeine des Blutzeugen von Pozzuoli nach seiner Geburtsstätte Neapel gebracht und in der durch den hl. Bischof Severus zu seiner Ehre (außerhalb der Mauern) erbauten Kirche beigesetzt. Die Frau, welche sein Blut aufbewahrt hatte, brachte dem Bischof die Fläschchen, und sowie diese dem Haupte nahegebracht wurden, erhielt es seine Flüssigkeit wieder. Im 9. Jahrhundert belagerte Sicon, Fürst von Benevent, die Stadt Neapel, wobei er vor allem darauf achtete, daß niemand die heiligen Überreste wegtrage; denn er glaubte, dieselben gehörten dem Bischofssitz, nicht dem Geburtsort des Blutzeugen. Nachdem er die Stadt eingenommen und die Gebeine erhoben, brachte er sie unter großem Frohlocken nach Benevent. In den stürmischen Zeiten König (Kaiser) Friedrichs II wurden sie in die Abtei Monte-Vergine geflüchet und so heimlich unter dem Hochaltar eingemauert, daß bei zweihundert Jahren niemand etwas davon wußte. Im Jahr 1480 sollte ein neuer Hochaltar gebaut werden, da wurden sie entdeckt und im Jahr 1497 mit großer Freierlichkeit wieder nach Neapel gebracht. Das Haupt indes, nebst dem Blut, war immer in Neapel geblieben. ...

Der Autor des vorstehenden Berichts, Friedrich von Hurter, geb. 1787, gest. 1865, war ursprünglich protetantischer Stadtfparrer zu Schaffhausen, konvertierte 1844 in Rom zur katholischen Kirche; seit 1846 Hofhistoriograph in Wien. Der Bericht ist um einiges gekürzt und sprachlich der neueren Orthographie angepaßt worden.
(Aus: Hurter, Friedrich. Geburt und Wiedergeburt. Erinnerungen aus Italien. Bd. 3, 1845)
Für "Das Zeichen Mariens" von Alice Stöcklin

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